Das Lächeln von Reims

Das Lächeln von Reims

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Denkmäler, Römerstraßen, Hansestädte: Historische Netzwerke verbinden Europa

Vor einiger Zeit machte ich eine Stadtführung für eine französische Schulklasse. Die Austauschschüler trotteten mehr oder weniger interessiert hinter mir her. Sie sprachen kaum Deutsch, ich spreche nur wenig Französisch. Eine französische Lehrerin dolmetschte. Wahrend einer längeren Erklärung auf dem Marktplatz begutachteten einige Kinder die Butterbrote, die ihnen ihre deutschen Gasteltern geschmiert hatten. Die Lehrerin übersetzte die Debatte: Die kleinen Franzosen waren skeptisch, ob sie den ihnen unbekannten Aufstrich essen konnten, der sich auf ihren Broten befand. Aber als ich ihnen kurz darauf in einer Kirche etwas über Gotik und Romanik erzählte, brauchte ich keine Übersetzung: Diese Worte und was sie bedeuteten, verstanden die Kinder auch so. 

Riga
Riga war eine bedeutende Metropole der Hanse als Zwischenstation im Handelsverkehr zwischen Westeuropa und Russland.

Sichtbare Spuren 

Da ist mir einmal mehr klar geworden, dass wir in Europa auf ein gemeinsames Erbe zurückgreifen können, dass uns über Sprachgrenzen und kulturelle Grenzen hinweg eine gemeinsame Verständigung ermöglicht. Dieses europäische Erbe ist kein einfaches. Dazu gehört eine lange Geschichte von Kriegen und nationaler Konkurrenz. Trotzdem sind im Wechselspiel von Auseinandersetzungen und gegenseitigen Interessen immer wieder übergreifende Traditionen entstanden, die überall in der EU sichtbare Spuren hinterlassen haben. Bevor die Städte in Europa dominierten, prägte eine andere Institution den Kontinent: Von Skandinavien bis nach Italien, von Frankreich bis zum Baltikum reicht die europäische Klosterlandschaft. Fast 500 Jahre lang dienten Klöster als Wirtschafts- und Verwaltungszentren, als Schulen und als karitative Einrichtungen.

Die Hanse – ein europäisches Vorbild 

Von den Niederlanden über Norddeutschland und Schweden bis nach Livland ähneln sich die historischen Stadtansichten mit ihren Kirchen und Bürgerhäusern im Stil der Backsteingotik. Diese ist ein Zeichen der Hanse, einer mittelalterlichen Wirtschaftsgemeinschaft, die zeitweise an die 200 Städte verband. Pragmatischer Kaufleute hatten erkannt, dass sie ihre Handelsziele innerhalb einer Gemeinschaft besser erreichen konnten als auf eigenes Risiko. Aus genossenschaftlichen Vereinigungen wuchs ein Städtebund, dem sich zeitweise bis zu 200 Städte angeschlossen hatten. Die Hanse besaß eine eigene Gerichtsbarkeit; nur sie galt in ausländischen Hanse-Niederlassungen, unabhängig vom dort herrschenden Landesrecht. Das Netzwerk funktionierte so gut, dass die Hanse zu ihrer Blütezeit nicht nur ein bedeutender Wirtschaftsfaktor war, sondern auch politisch wie ein Staat auftrat. Insofern gilt sie als mittelalterliches Vorbild der Europäischen Union.

Die Via Appia
Die Via Appia: Mit dem Bau dieser Römerstraße wurde Anfang des 4. Jahrhunderts begonnen. Auf ihrer Trasse verläuft heute teilweise eine wichtige Fernstraße Italiens. An manchen Stellen wurde die antike Pflasterung ausgegraben.

Reichtum an Römerstraßen

Noch heute profitiert diese vom Erbe der Antike, vor allem des Römischen Reiches, das im zweiten Jahrhundert nach Christus von Schottland bis Nordafrika und von Portugal bis in die Türkei, Syrien und Ägypten reichte. Die Millionenstadt Rom war der politische und administrative Mittelpunkt dieses Imperiums. Von dort aus zog sich ein Netz von Straßen über Europa – gebaut, um Waren und Soldaten zu transportieren. Der dänische Wissenschaftler Carl-Johan Dalgaard fand heraus, dass die ausgeklügelte Infrastruktur der Römer bis in die Gegenwart hinein nachwirkt: Dort, wo sich eine hohe Dichte römischer Straßen befunden hatte, machten er und sein Team in aktuellen Satellitenaufnahmen eine stärkere Siedlungsbildung und größere wirtschaftliche Aktivität aus. Zudem verdankt Europa der Antike die Demokratie und gemeinsame Rechtsgrundlagen, wie sie sich über das Römische Reich bis nach England und in den Balkan verbreiteten. Nicht umsonst erinnern die Parlamentsgebäude in Berlin, Wien, Paris oder Madrid, die alle aus dem 18. oder 19. Jahrhundert stammen, an griechisch-römische Tempel.

Schmelztiegel der Gelehrsamkeit

Die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen führten die Europäer ebenso aggressiv und intolerant wie fruchtbar. Ein Beispiel für letzteres sind die Universitäten, die ab dem 11. Jahrhundert in verschiedenen europäischen Ländern entstanden: als „Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden“ (universitas magistrorum et scholarium) mit genossenschaftlichen Strukturen und einer relativ autonomen Selbstverwaltung. Jenseits von Pogromen und Kriegen ist diese europäische Institution nicht denkbar ohne die Aneignung von Kenntnissen anderer Kulturkreise. So beeinflussten jüdische und arabische Ärzte die westliche Heilkunde. Ein Schmelztiegel kulturübergreifender Gelehrsamkeit war die Medizinerschule von Salerno, die auf antikem, arabischem, christlichem und jüdischem Wissen fußte.

Ein Lächeln überwindet Grenzen

Kehren wir noch einmal zu den Franzosen zurück: In ihrer Heimat, an der Kathedrale von Reims, entzückt seit Jahrhunderten ein mittelalterlicher Engel mit verschmitztem Lächeln die Betrachter. Wer von Reims weiter nach Osten reist, begegnet diesem Lächeln in Metz, in Mainz, später in Naumburg und schließlich wieder in Meißen. Das liegt an einer Truppe talentierter Steinmetze, an deren Spitze der Naumburger Meister stand. Wir kennen die Namen dieser Kunstler heute nicht mehr. Aber zu ihrer Zeit waren sie so begehrt, dass sie überall gefragt waren. Und sie versahen manche ihrer Steinskulpturen mit einem Lächeln, das zu einem der schönsten Beispiele für ein grenzübergreifendes Europa geworden ist.