Mitgestalter eines neuen Europa
Bis heute umweht ihn die Aura eines gewaltigen Rettungsschirms für Europa: den Marshallplan, zwischen 1948 und 1952 als Wirtschaftshilfe von den USA in Gang gesetzt. Moderne Historiker und Finanzexperten schätzen seine Bedeutung jedoch bescheidener ein.
Das „European Recovery Program“ (Europäisches Konjunkturprogramm) wurde vom US-Außenminister George C. Marshall erdacht. Am 5. Juni 1947 hielt er eine Rede in der Harvard Universität. Dabei betonte er die Bedeutung eines wirtschaftlich starken Europas für den Weltfrieden und für die moderne Zivilisation – mit anderen Worten: für die Vereinigten Staaten. Um den internationalen Handel wieder anzukurbeln seien die USA bereit, den europäischen Ländern eine Art Hilfe zur Selbsthilfe zur Verfügung zu stellen.
Die angestrebte Bindung Europas an die USA – inklusive des besiegten Deutschlands – zielte gegen die Sowjetunion. Diese hatte begonnen, von Osten her einen kommunistischen Machtblock aufzubauen. Die Spannungen zu den ehemaligen westalliierten Verbündeten verschärften sich zunehmend; an einer wirtschaftlichen Zusammenarbeit war die UdSSR nicht interessiert. Trotzdem boten die Vereinigten Staaten ihren Rettungsschirm auch den Sowjets und anderen sozialistischen Ländern an.
Dabei handelte es sich jedoch um einen geschickten Schachzug: Wie erwartet lehnte Stalin ab. Der russische Diktator zwang außerdem die kommunistischen Staaten in seinem Einflussbereich, darunter Polen und die Tschechoslowakei, die Subventionen nicht anzunehmen. Sein Votum festigte die Teilung Europas in einen West- und einen Ostblock. Damit hatten die USA der UdSSR den Schwarzen Peter zugeschoben. Insofern bezeichnet der britische Historiker die Rede Marshalls in Harvard als den „für die Teilung Europas entscheidenden Moment“ (Ian Kershaw, Höllensturz, Deutsche Verlags-Anstalt 2016).
16 Länder gingen auf die Vorgaben der Amerikaner ein. Sie erstellten eigene Entwicklungsprogramm und verständigten sich auf eine wirtschaftliche Kooperation. Am 16. April folgte die Gründung der „Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit“ (OEEC). Sie wurde ein Fundament für die spätere europäische Gemeinschaft. Im Herbst darauf startete das European Recovery Programm – allerdings nicht in Form von Geldströmen , die über den Atlantik nach Europa flossen. Stattdessen basierte der Marshallplan auf einem System, dass es den USA ermöglichte, Rohstoffe und Produkte nach Europa abzusetzen, obwohl die Europäer nicht angemessen zahlen konnten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg fehlten allen europäischen Ländern, allen voran dem besiegten Deutschland, Devisen. Das heißt, sie besaßen keine fremden Währungen wie US-Dollar, um eingeführte Waren zu bezahlen . Die USA umgingen das Problem im Rahmen des Marshallplans teilweise folgendermaßen: Die amerikanische Regierung kaufte Lebensmittel , Rohstoffe und Verbrauchsgüter von heimischen Erzeugern. Diese Waren lieferten sie nach Europa – jedoch nicht als Geschenke . Die europäischen Staaten mussten den Gegenwert für die Waren in ihrer jeweiligen Währung – Pfund, D-Mark, Franc – in einen Fonds einzahlen (siehe u.a. Elke Kimmel: Der Marshallplan in der Praxis). Diese Gegenwertfonds funktionierten ähnlich wie Sparschweine : Aus ihnen konnten die Regierungen Geld für ihre jeweiligen Wiederaufbauprogramme entnehmen. Deutschland vergab aus diesen Fonds zum Beispiel günstige Kredite an Unternehmer.
Insgesamt ließen sich die USA ihr Hilfsprogramm zwischen zwölf und 14 Milliarden US-Dollar kosten (Die Angaben schwanken). Uneigennützig taten sie das nicht. Sie hatten den europäischen Absatzmarkt erfolgreich für ihre eigenen Waren wiederbelebt. Und sie hatten erreicht, dass sich die Europäer den Vereinigten Staaten mehr oder weniger verpflichtet fühlten. Heute sind Historiker der Ansicht, dass sich die meisten Länder der Alten Welt auch ohne den Marshallplan relativ schnell erholt hätten. Ein wirtschaftlicher Aufschwung zeichnete sich bereits vor Beginn des Hilfsprogramms ab.
Am meisten profitierten die Verlierer des Zweiten Weltkriegs, also Deutschland, Österreich und Italien. Besonders für Deutschland wog das moralische Gewicht des Marshallplans noch mehr als das wirtschaftliche. Denn die USA signalisierten dem einstigen Feind auf diese Weise, dass er ebenbürtiger Mitgestalter eines neuen Europas werden konnte. So erhielt Deutschland „die Chance, sich in die westliche Staatengemeinschaft zu integrieren“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 21. Juni 2017 in Berlin auf der Festveranstaltung „70 Jahre Marshallplan“.
Im Westen stieß die Integration Deutschlands nicht überall auf Gegenliebe. Vor allem die Franzosen trieb die Angst vor einer deutschen Wirtschafts- und Militärmacht um. Als sie dann akzeptieren mussten, dass mit der Bundesrepublik ein neuer deutscher Staat entstehen würde, änderten sie ihre Strategie. Ausgangspunkt einer engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Europa sollte nach Meinung von Ian Kershaw nicht der Marshallplan, „sondern die deutsch-französische Annäherung über Ruhrkohle und Stahl“ werden.